Notes I Found In Pigtown - Geschichten aus dem Viertel (1)
Schreie am Morgen
Irgendein Gebrüll weckt mich. Ich schiele links auf die
Armbanduhr, die auf dem Nachttisch liegt und sehe, es ist noch nicht mal halb
sieben durch. Draußen schreit’s nach Krieg und Frieden und ich geh rüber zum
Fenster, um zu sehen, was da vor sich geht. Eine kleine dicke Frau steht auf
der anderen Seite neben der Bushaltestelle und wartet. Keine zehn Meter von ihr
entfernt lehnt sich ein Typ, noch total verschlafen mit freiem Oberkörper und
Fell wie’n Yeti auf der blassen Haut aus dem Fenster und schreit zu ihr rüber. „Hey.
Hey. Hey. Bist du taub, oder was?“ Die Frau reagiert nicht und ich erkenne kurz
darauf die Schnur, die vor ihrem Oberkörper baumelt und bis zu den Ohren
reicht. Sie steht da, wartet und hört ihre Musik aus den Kopfhörern. Sie wartet
und wartet und er schreit und schreit. Wann kommt endlich dieser Bus, frag ich
mich. Das Dickerchen noch immer in Gedanken bei dem Lied, das gerade in ihrem
Oberstübchen für entsprechende Stimmung sorgt. Sie stiert einfach geradeaus ins
morgendliche Nichts und scheint in einem Traum versunken zu sein. Und der Bär
der brüllt noch immer aus dem Fenster, als würde die ganze Hütte brennen. Einen
Moment später verschwindet er im Inneren der Wohnung und kommt mit einer leeren
Bierflasche zurück. Er holt aus und schmeißt ihr das Ding vor die Füße. Sie
zuckt vor Schreck zusammen und das Glas fliegt über die ganze Straße. Ihr Traum
ist buchstäblich in tausend Scherben zerplatzt. Ruckartig reißt sie sich die
Kopfhörer aus den Ohren und schaut nach rechts zu ihrer Wohnung, von wo aus die
Flasche geflogen kam. In ihrem Blick liegt Entsetzen und Ratlosigkeit und der
Typ scheint erleichtert und deutet mit dem Daumen nach drinnen: „Du hast
vergessen das Radio auszustellen, das dudelt hier immer noch vor sich her.“
- MM
(Foto: Christa Müller)
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