Notes I Found In Pigtown - Geschichten aus dem Viertel (4)
Geschichten und Geschäfte
Gegenüber vom Spielplatz sitzt der Junge an manchen Nachmittagen
immer, seine dunkelrote Decke auf dem kleinen Stück Wiese ausgebreitet und
darauf irgendein Plunder, den er verkaufen will. Beispielsweise drei Videofilme
(meistens alte deutsche Schinken), ein paar abgenutzte Karl May Bände, ein
Springseil und verschiedene Playmobilfiguren. Vor einiger Zeit hab ich ihm eine
Figur für 50 Cent abgekauft. Sie steht bei mir in der Küche neben meiner
Topfpflanze. Aber die eigentliche Geschichte geht so:
In der Nacht zum Samstag, in der letzten Woche war der Vater
des Jungen nach einer durchzechten Kneipentour erst sehr spät oder besser
gesagt sehr früh nach Hause gekommen. Er legte seine Kleidungsstücke ab und
bemerkte schnell wie ihm die heimische Umgebung im Kopf, sowie im
Magen zu schaffen machte. Nur in Unterhose bekleidet verbarrikadierte er sich
im Badezimmer, um die mahnenden und zum Teil brüllenden Worte seiner Ehefrau,
die demnächst aufwachen sollte auf Distanz zu halten. Die ersten
Würgegeräusche, die aus dem Bad kamen weckten die gute Frau also auf und sofort wurde Stellung
vor der Badezimmertür bezogen. Sie
klopfte und brüllte und irgendwann als die Sonne am Himmel auftauchte erreichte
sie das Gefühl, sich dringend erleichtern zu müssen. Der Junge hatte im
Kinderzimmer währenddessen seit den ersten Flüchen seiner Mutter gen Badezimmertür
kein Auge mehr zugetan. Irgendwann zu früher Stund trat er dann hinaus, sah die
Klamotten seines Vaters, die verstreut im Wohnzimmer lagen und erhaschte einen kurzen
Blick auf seine Mutter, die sich zur gleichen Zeit auf dem PVC des Flurs
entleerte. Später beschwerte sich der Vater nicht nur lauthals über einen
verunreinigten Flurboden, sondern vielmehr ging es ihm um 150 Euro, die seine
Frau ihm aus der Brieftasche geklaut haben soll. Natürlich leugnete sie alles
und er war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob das Geld möglicherweise doch in der
Kneipe verzockt wurde. „Vielleicht hab ich aus Trotz in den Flur geschissen,
aber Geld hab ich dir nicht gestohlen“, erklärte die Mutter abschließend und die Sache war erledigt.
Solche Geschichten erreichen einen in manchen Stadtteilen
wie Supermarktprospekte, die in den Treppenhäusern ausliegen. Bevor ich tags darauf
überhaupt einen Fuß nach draußen auf die
Straße setzten konnte, informierte mich die alte Dame von unten über jene ereignisreiche Nacht im Haus drei Straßen weiter. Ich nahm mir vor, dem Jungen
später am Tag wieder etwas abzukaufen, um ihn aufzumuntern sozusagen. Zu meiner Überraschung lagen auf der
Decke diesmal drei alte Henry Miller Bücher und eine ziemlich neue DVD von Michael
Ciminos Die durch die Hölle gehen. „Ich nehm die Bücher und die DVD.“
„15 Euro“, sagte er. „Das ist ein äußerst fairer Preis.“ „Ja, so macht man
Geschäfte“, sagte er stolz. Ich nickte und bezahlte. „Wie laufen die Geschäfte
denn so?“ fragte ich und reichte ihm das Geld. Er zog eine schwarze Geldbörse
hervor, verstaute mein Geld und zog kurz darauf 150 Euro hervor. „Geschäfte
laufen nicht schlecht“, sagte er, “gar nicht schlecht.“
- MM
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